Ende August veröffentlichte eine Untersuchungskommission der OVCW (Organisation für das Verbot chemischer Waffen) einen Bericht über den Einsatz von Giftgas in Syrien.
Bei acht der neun der untersuchten Fälle kam Chlorgas zum Einsatz, bei einem Senfgas. Chlor ist eine Chemikalie, die zur Desinfektion verwendet wird. Weiterhin findet sie Anwendung als eine der Komponenten zur Wasserreinigung. Sie steht nicht auf der Verbotsliste der Chemiewaffenkonvention und ist dem OVCW-Bericht zufolge allen Bürgerkriegsparteien zugänglich. Ihr Einsatz als Waffe ist allerdings verboten. SechsFälle konnten nicht eindeutig einer Bürgerkriegspartei zugeordnet werden, bzw. der Einsatz von chemischen Waffen konnte weder verifiziert noch ausgeschlossen werden. Die Senfgasattacke bei Marea vom 21. August 2015 schreibt die Untersuchungskommission dem Islamischen Staat zu, den Einsatz von Chlorgas in Talmenes (21. April 2014, Provinz Idlib) und Sarmin (16. März 2015, Provinz Idlib) soll die syrische Armee verübt haben.
In den fünf Fällen aus dem Jahr 2014, in denen Chlorgas zum Einsatz kam, entsprachen die gefundenen Zylinder nicht der von der „Internationalen Organisation für Standardisierung“ vorgeschriebenen Normen zur Aufbewahrung von Chlor. Im August 2012 wurde eine Anlage zur Herstellung von Chlor der „Syrian-Saudi Chemicals Company“ 29 km östlich von Aleppo von Jabhat al-Nusra eingenommen. Von der syrischen Regierung bereitgestellten Informationen gemäß wurden in der Fabrik zum Zeitpunkt ihrer Einnahme 400 Tonnen Chlor gelagert. Die Untersuchungskommission bestätigt, dass die Chlorcontainer nach dem August 2012 abtransportiert worden sind. Zu Beginn des Jahres 2012 eroberten Rebellengruppen eine Papierfabrik in Deir az-Zor, die eine Einheit zur Chlorproduktion beinhaltete. Regierungsangaben zufolge wurden dort 59 Tonnen Salzsäure (Chlorwasserstoffsäure) und 3 Tonnen Natriumhypochlorit gelagert.
In den meisten Berichten im Zusammenhang mit Chlorangriffen gaben Zeugen an, einen Flugkörper gehört oder gesehen zu haben. Allerdings merkt die Untersuchungskommission an, dass in einigen Fällen die einzigen Zeugen Mitarbeiter eines von den Gemeinden eingerichteten lokalen „Frühwarnungskommandos“ waren. Berichten der Bevölkerung zufolge war es wiederholt zu falschen Alarmen durch ein solches Frühwarnungskommando gekommen. Zum fraglichen Zeitpunkt stand der Internationale Flughafen von Aleppo, die Hama-Airbase, der Basil al-Assad-Flughafen einschließlich der Humaymim-Airbase in Latakia und der Abu al-Zuhur-Flughafen in Idlib unter der Kontrolle der Regierung, allerdings hatte die Regierung die Kontrolle über sechs weitere Flughäfen in der Gegend verloren. Die Regierung gab gegenüber der Untersuchungskommission an, während der infrage stehenden Zeitpunkte den Luftraum kontrolliert zu haben, kann aber nicht ausschließen, dass Flüge unterhalb der Radar-Reichweite unbemerkt stattgefunden haben könnten. Regierungsangaben zufolge seien Oppositionsgruppen im Besitz von Drohnen und hätten sie auch verwendet, allerdings seien die Drohnen zu klein, um an den Chlorangriffen beteiligt zu sein. (Die Kommission geht von einer Mindestmenge von mindestens 125 Litern aus).
Erschwert wurden die Ermittlungen nach Angaben der OVCW-Untersuchungskommission durch folgende Punkte: a) In einigen Fällen konnten die Ermittlungen erst mehr als zwei Jahre nach den Vorfällen geführt werden, b) die der Kommission übergebenen Materialien waren nicht sorgfältig genug aufbewahrt worden, c) die Informationsquellen und Materialien waren von sekundärer oder tertiärer Natur, d) einige der Informationen über das Ausmaß und die Natur des Vorfalls waren irreführend, e) unabhängige Informationsquellen zu finden, stellte sich als schwierig heraus. In einigen Fällen schien es, als seien Überbleibsel eines Geschosses zu dem angeblichen Einschlagkrater transportiert worden.
Im Folgenden wollen wir uns die relevanten Fälle im Detail ansehen.
Talmenes (Idlib), 21. August 2015: Zum fraglichen Zeitpunkt stand die Ortschaft unter der Kontrolle Ahrar ash-Shams und Jabhat al-Nusras. Sie war in den Tagen um den 21. August Ziel regulären Artilleriefeuers und Luftangriffen der Armee gewesen. Zeugenaussagen zufolge wurde eine Chemikalie freigesetzt, nachdem aus einem Flugkörper abgeworfene Fassbombe explodiert war. Da es keine Anhaltspunkte gab, dass die Opposition zum fraglichen Zeitpunkt einen Helikopter operiert hatte, geht die Untersuchungskommission davon aus, dass die Regierung für den Anschlag verantwortlich sein müsse. Die Anzahl der Betroffenen schwankt zwischen 100 und 200, Todesfälle konnten nicht bestätigt werden. Wie aus Annex IV dieses Reports hervorgeht, stützt sich die Hauptbeweiskraft auf Videoaufnahmen eines Einschlagkraters und Überreste des darauf zu sehenden Geschosses. Da der Ort zum fraglichen Zeitpunkt Ziel von Artilleriefeuer und Luftangriffen gewesen war, fällt eine Zuordnung zwischen der Chlorbombe und einem konkreten Krater denkbar schwer. Weder die Regierung noch die Opposition bestreiten, dass in Talmenes ein Chlorangriff stattfand.
Sarmin (Idlib), 16. März 2015: Die Nachforschungen der Untersuchungskommission ergaben, dass ein von einem Helikopter abgeworfenes Geschoss – die Überreste deuten auf eine Fassbombe hin – ein halbfertiges Haus traf, woraufhin Gas ausgetreten war und alle sechs Bewohner, die im Keller gelebt hatten, getötet hatte. Prinzipiell ist das Szenario, ein im Haus befindlicher Kanister mit Chlorgas sei bei dem Abwurf einer Bombe zerstört worden, nicht ausgeschlossen. Die Regierung deutete an, dass von ihrer Seite keine Flüge am 16. März in dieser Region unternommen worden waren. Da es keine Anhaltspunkte gab, dass die Opposition zum fraglichen Zeitpunkt einen Helikopter geflogen habe, geht die Untersuchungskommission davon aus, dass die Regierung die Verantwortung für den Anschlag trägt.
Marea (Aleppo), 21. August 2015: In Marea (Gouvernement Aleppo) hielten sich mehrere Oppositionsgruppen auf, die sich zum fraglichen Zeitpunkt Angriffen des Islamischen Staats ausgesetzt sahen. Zeugenaussagen und anderen Quellen zufolge sei die Stadt von über fünfzig Artilleriegeschossen getroffen worden, von denen einige Senfgas enthielten. Die Geschosse seien aus einem vom Islamischen Staat kontrollierten Gebiet abgefeuert worden. Laut OVCW war der Islamische Staat die einzige Konfliktpartei die sowohl die technischen Möglichkeiten als auch ein Motiv zu der Tat gehabt habe.
Im Falle Kafr Zitas (Hama, 18. April 2014) konnte die Untersuchungskommission zu keinem eindeutigen Ergebnis kommen, da die Überreste des Geschosses nicht auffindbar waren. Schon im Vorjahr hatte die Kommission den Vorfall in Kafr Zita untersuchen wollen, doch die Fahrzeuge der Kommission waren wiederholt von Bewaffneten angegriffen worden. In Kafr Zita hielten sich zum fraglichen Zeitpunkt Rebellengruppen und Jabhat al-Nusra auf. Die Gegend war regulärem Artilleriefeuer und Luftangriffen durch die syrische Armee ausgesetzt. Die Regierung bestätigt, dass die syrische Armee einen Luftschlag auf ein Gebäude ausgeführt hatte, in welchem Sprengstoff gelagert wurde. Nachdem die Bombe das Gebäude getroffen hatte, war ein giftiges grünliches Gas ausgetreten. (Meiner Ansicht nach deutet das darauf hin, dass sich der Chlor-Kanister in besagtem Gebäude befunden hatte, denn es gibt keinen Grund, weshalb die Armee ein Sprengstofflager mit Chlorgas bombardieren sollte.) Einer anderen Quelle zufolge habe die Nusra-Front zudem Granatwerfer mit Chlor eingesetzt, was zu der Behauptung der Regierung passt, die Nusra-Front habe eine improvisierte Rakete, an der ein Gaszylinder angebracht war, abgeschossen.
In Qmenas (Idlib, 16. März 2015) wurde die Kommission mit zwei kontradiktierenden Versionen des Geschehenen konfrontiert: Im von der Regierung geschilderten Szenario hatten Kämpfer Jund al-Aqsas mit einer unbekannten Substanz gefüllte Fässer aus den unterirdisch gelegenen Höhlen Maghawir al-Dawash auf einem Vehikel transportiert. Als eines davon herunterfiel, trat ein Gas aus, was Erstickungsanfälle bei Kämpfern und Einwohnern auslöste. Zudem habe eine Oppositionsgruppe eine mit Chemikalien gefüllte sogenannte „Hell Cannon“ gegen eine andere Oppositionsgruppe eingesetzt. Andere Zeugen schildern das übliche Szenario: Fassbomben, die von Helikoptern abgeworfen werden. Die Kommission kam zu keinem eindeutigen Ergebnis.
In al-Tamanah (Idlib, 29. -30. April 2014) berichteten mehrere Zeugen, dass bewaffnete Männer – einige aus der Ortschaft selbst und andere Ausländer – behauptet hatten, die syrische Regierung würde chemische Angriffe ausführen, und die Bevölkerung gedrängt hatten, den Ort zu verlassen. Diese Meldungen erwiesen sich als falscher Alarm. Andere sagten, die Mitglieder des Frühwarnkommandos hätten Fehlalarme herausgegeben. Bei ihrer Rückkehr ins Dorf berichteten sechs Personen, dass ihr eigenes Haus oder das ihrer Nachbarn ausgeraubt worden sei. Auch von gefakten Filmaufnahmen war die Rede. Die Kommission fand nicht genügend Beweise dafür, dass ein Angriff mit Chemikalien staatgefunden habe.
Obwohl die Untersuchungsmission zweifellos großartige Arbeit geleistet hat, muss darauf hingewiesen werden, dass die Beweise oft sehr indirekter Natur sind. Aus den detaillierten Anhängen zu diesem Bericht geht hervor, dass zu jedem Fall mindestens zwei, bisweilen gar drei bis vier verschiedene Varianten des Geschehenen existieren, und die Zeugen oftmals die gegensätzlichsten Dinge erzählen. In den meisten Fällen stehen mehrere Einschlagskrater zur Auswahl. Basierend auf einem von der Untersuchungskommission aufgestellten Modell einer mit Chlor gefüllten Fassbombe und dem charakteristischen Einschlagskrater, den ein solches Objekt im Falle seiner Existenz hinterlassen würde, wurde dann nach Möglichkeit einer der zur Disposition stehenden Krater als Einschlagskrater der Chlorbombe ausgemacht. Überreste des Geschosses, wenn überhaupt vorhanden, wurden in einigen Fällen an andere Orte geschafft; Spuren von Chlor an solchen Überresten sind also denkbar selten feststellbar.
Wegen des bis heute ungeklärten Saringaseinsatzes in Ghouta wäre Syrien 2013 beinahe von den Amerikanern angegriffen worden, woraufhin die syrische Armee unter internationaler Aufsicht ihr gesamtes Chemiewaffenarsenal zerstören ließ. Vor diesem Hintergrund scheint es befremdlich, dass die syrische Regierung das ohnehin angespannte Verhältnis zum Westen noch weiter verschärfen würde, indem sie die Armee Kanister mit Chlor abwerfen lässt, noch dazu, ohne irgendeinen erkennbaren militärischen Vorteil aus der Lage zu ziehen.