Spätestens seit der Skripal-Affäre Anfang März diesen Jahres lässt sich eine in logischer und leider auch moralischer Hinsicht fragwürdige Form von Rhetorik in Politik und Presse beobachten, die in ihrer Essenz die Idee vermittelt, Beweise seien wegen „erdrückender Indizienlast“ entweder nicht nötig, oder aber diese Beweise seien „streng geheim“ und damit der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Dabei beschränken sich besagte Indizien oftmals auf eine Aufzählung ebenfalls nicht bewiesener Verbrechen, z.B. im Falle Skripal wird argumentiert, dass Russland ja für den Abschuss des Passagierflugzeugs der Fluggesellschaft „Malaysia Airlines“ über der Ukraine im Jahr 2014 verantwortlich sei sowie für Eingriffe in den US-Wahlkampf (überhaupt ist die Liste der angeblich von russischer Seite verübten Hackerangriffe lang) usw., und damit seine aggressive, den Frieden gefährdende Natur bereits demonstriert hätte. Selbst wenn Russland all diese kriminellen Akte zu Recht zur Last gelegt würden, dürfte daraus aber nicht unreflektiert gefolgert werden, dass auch alle zukünftigen Verbrechen automatisch auf Russlands Konto gehen, genauso wie jeder Tankstellenüberfall von der Polizei neu untersucht werden muss und man nicht einfach annehmen darf, dass derjenige, der die letzten drei Tankstellen in der Gegend überfallen hat, automatisch auch die vierte überfallen haben muss. Auch am Falle des neuesten Giftgaseinsatzes in Syrien treffen wir auf dieses Schema. Ich zitiere Klaus-Dieter Frankenberger (FAZ): „Die ’schweren Indizien‘ von denen Bundeskanzlerin Merkel sprach, sind zwar keine Beweise. Auch bei früheren Angriffen mit Chemiewaffen – aus welchen Beständen stammen die eigentlich? – war das so, bis dann kein Zweifel mehr an den Tätern bestand.“ Die Logik ist also folgende: Obwohl noch kein Schuldiger feststeht (genau genommen sind sich noch nicht einmal alle Parteien darüber einig, ob überhaupt ein Giftgasangriff stattgefunden hat), wird wohl das syrische Regime dafür verantwortlich sein – denn all die vorangegangenen Male, bei denen man den Täter nicht kannte, hat sich am Ende ja auch herausgestellt, dass die syrische Regierung dafür verantwortlich war. Wozu also Beweise, wie sie z.B. von der OPCW geliefert werden können, abwarten? – In juristischer Hinsicht erscheint mir das ein Rückschritt im Vergleich zum Mittelalter zu sein, wo sich die Inquisition zumindest die Mühe machte, ein falsches Geständnis aus ihren Opfern herauszupressen, um sie nicht ganz ohne Beweise auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.

Hinzu kommt, dass sich keineswegs bei allen vorangegangen Giftgasanschlägen das syrische Regime als Täter ausmachen ließ. Wer für den Sarin-Anschlag im Jahr 2013 in Ghouta verantwortlich war, ist bis heute nicht geklärt; zwar schreibt die OPCW der syrischen Armee einige Chlorgasanschläge zu, doch reichen die entsprechenden Berichte bei rechtem Lichte betrachtet nicht für eine Verurteilung (mehr dazu in meiner Analyse über dieses Thema). Den Tatort einer weiteren großen mutmaßlichen Sarin-Attacke Khan Shaykun hat die OPCW aus Sicherheitsgründen nie betreten und kommt daher lediglich durch Indizien zu dem Urteil, dass höchstwahrscheinlich die syrische Armee dafür verantwortlich war. Wie im Falle Skripal werden also lediglich auf Indizienbeweisen basierende Schuldzuschreibungen ihrerseits als Indiz genommen, dass der nächste Fall (Giftgaseinsatz in Duma) wohl ebenfalls auf denselben Täter zurückgeht.

Auch eine Aussage der Bundeskanzlerin Angela Merkel illustriert sehr schön diese neue Herangehensweise der internationalen Verbrecherbekämpfung, die das vordem gültige „Im Zweifel für den Angeklagten“ abgelöst hat. Bezüglich Russlands Vorschlag, unabhängige Experten nach Syrien einzuladen, um den Tatort zu untersuchen, sagte sie: „Das kann auch meinetwegen nochmal nachgeprüft werden. Aber das hilft uns bei der Verurteilung des Falles jetzt nicht weiter.“

Wenn Beweise nicht bereits durch die „erdrückende Indizienlast“ überflüssig gemacht werden, reicht bisweilen auch der Vermerk, sie beruhten auf streng geheimen Geheimdienstinformationen. Zum Beispiel erschien nur wenige Stunden nach der Erklärung des Militärlabors Porton Down, bei dem Stoff, mit dem die Skripals vergiftet wurden, handele es sich zwar um eine Gattung der Nervengiftgruppe „Nowitschok“, es könne jedoch nicht auf den Produzenten geschlossen werden, ein Artikel in der britischen „Times“, der sich auf nicht genannte „Experten aus Sicherheitskreisen“ beruft, die nicht nur Russland als Produktionsland ausmachen konnten – sondern gar ein ganz konkretes Labor.