Libanonkrieg und kleiner Exkurs über Konfessionskonflikte
Es sei darauf hingewiesen, dass der libanesische Bürgerkrieg sehr komplex ist: Verschiedene Milizen bilden wechselnde Koalitionen und werden von außen unterstützt, hauptsächlich durch Syrien, Israel und den Iran. Die schiitische, von Syrien unterstützte Amal-Miliz greift Mitte der achtziger Jahre ebenfalls diese Flüchtlingscamps an und belagert sie – und zwar ohne dass die syrischen Truppen, die ganz in der Nähe stationiert sind, eingreifen. Die Attacken der Amal gelten palästinensischen Milizen, die die Camps unter Kontrolle bringen wollen, doch natürlich fallen ihr viele Zivilisten zum Opfer. Diese Angriffe der Amal auf die Lager ist später der Auslöser, bzw. Vorwand schwerer Kämpfe zwischen der ebenfalls schiitischen Hisbollah – welche die Angriffe verurteilt und vom Iran unterstützt wird – und der Amal. Der Iran wiederum kämpft zu dieser Zeit im 1. Golfkrieg gegen den Irak und wird dabei von Syrien unterstützt. Syrien erntet dafür nicht wenig Kritik in der Arabischen Welt: Wie kann es sich nur auf die Seite der Perser und nicht auf die der Araber stellen? Einer der Gründe ist sicherlich, dass sich Syrien wegen Ägyptens prowestlichem Kurs seines wichtigsten Verbündeten gegen Israel beraubt sieht. Ohne Ägypten ist ein militärisches Patt gegenüber Israel undenkbar. Syrien braucht einen neuen Verbündeten, und da bietet sich der Iran unter Ayatollah Khomeini durchaus an. Aus dieser Zeit datiert das freundschaftliche Verhältnis zwischen Syrien und dem Iran, welches auch heute von den meisten arabischen Staaten nicht gerne gesehen wird.
Die feindschaftliche Haltung der Amal gegen die Palästinenser mag verwundern; deshalb will ich kurz darauf eingehen. Seit dem ersten Krieg arabischer Staaten gegen Israel 1948 strömen Flüchtlinge in den Libanon. Der Libanon hat nur knapp sechs Millionen Einwohner – zum fraglichen Zeitpunkt noch weniger – und im Süden des Landes, das großenteils von schiitischen Bauern bewohnt ist, war die Anzahl der Palästinenser schon in den achtziger Jahren signifikant. Das Zusammenleben gestaltete sich schwierig. Es formten sich im Südlibanon schon früh palästinensische Milizen, die das Gebiet mehr und mehr unter ihre Kontrolle brachten und schließlich von dort aus Anschläge auf Israel ausführten. Die Vergeltungsschläge Israels gegen den Südlibanon treffen nicht nur die Terroristen, sondern fordern auch zivile Opfer. Dadurch entsteht Groll nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die Palästinenser, die Israels Attacken herausprovoziert haben. Es handelt sich also nicht etwa um einen Sunni-Schia-Konflikt: Die Palästinenser sind zwar Sunniten, doch die Amal greift sie nicht deswegen an. Das Auftreten von Schia-Milizen im Süden erklärt sich ganz einfach dadurch, dass dort hauptsächlich Angehörige des schiitischen Glaubens leben.
Allerdings dienen Glaube und Konfession dazu, die Leute unter einem Banner zu vereinen. Man erinnere sich an Fawzi al-Qawuqji, der diese Technik schon während des Drusenaufstands gegen die Franzosen nutzte. Auch ist es eine Tatsache, dass im mittleren Osten eine Gesellschaft, die sich einer Krise ausgesetzt sieht, als erstes entlang der Konfessionslinien als Bruchkante zersplittert, auch wenn die Angehörigen besagter Konfessionen bislang friedlich zusammengelebt hatten [1]. Ein ganz wichtiger Punkt ist auch, dass Konfession und Stammeszugehörigkeit sich fast immer überschneiden – wenn sich alle Angehörigen eines Stammes versammeln, wird man natürlicherweise fast hundert Prozent Sunniten, oder hundert Prozent Schiiten oder hundert Prozent Christen begegnen. Mit anderen Worten: Wenn sich also ein sunnitischer Stamm und ein schiitischer Stamm wegen irgendeiner weltlichen Sache wie Territorium oder Nutzung einer Wasserquelle bekriegen, darf man darin nicht gleich ein fundamentales Sunni-Schia-Problem sehen. Auch der Umstand, dass Hafiz al-Assad – welcher den Ruf eines kalten Pragmatikers innehat – die meisten Schlüsselpositionen mit Alawiten besetzt, hat wenig mit Religion zu tun. Die Alawiten lebten in Syrien lange Zeit isoliert im Gebirge, so dass Verwandtschaft und Konfession fast vollständig übereinstimmen. Vor der Machtübernahme Hafiz al-Assads folgte ein Militärputsch dem anderen – Assad will vermeiden, dass ihm dasselbe Schicksal widerfährt, und lässt nur Menschen in seine unmittelbare Umgebung, denen er bedingungslos vertraut. Das sind natürlicherweise Menschen, die er schon lange kennt – Menschen mit denen er aufgewachsen ist. Diese Leute sind also zwangsläufig Alawiten. Vereinzelt finden sich aber auch Sunniten in sehr hohen Positionen. Nicht die Konfessionszugehörigkeit ist ausschlaggebend, sondern das Vertrauen, das Assad der jeweiligen Person entgegenbringt.
Israel ist während des Libanonfeldzugs mit einer Truppenstärke von 78.000 Mann vertreten (Syrien mit 30.000). Bis 1985 zieht sich Israel aus Teilen der besetzten Gebiete zurück, behält jedoch die Kontrolle über die Grenzregion („Sicherheitsgürtel“). Die dort stationierten israelischen Soldaten sehen sich die nächsten fünfzehn Jahre lang mit heftigen Attacken der Hisbollah konfrontiert, bis sich schließlich Israel im Jahr 2000 aus dem Südlibanon zurückzieht. Syrische Truppen sind noch bis 2005 im Libanon stationiert.
[1] Man muss darauf bedacht sein, Ursache und Wirkung streng zu unterscheiden: Meistens führen nicht die durchaus vorhandenen Spannungen zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen einen Konflikt herbei, sondern die (wodurch auch immer) angeschlagene Gesellschaft ist es, die Spannungen zwischen den Konfessionen hervorruft, bzw. sie verstärkt. In einer intakten arabischen Gesellschaft leben die verschiedenen Ethnien und Konfessionen in der Regel friedlich zusammen. Der Libanesische Bürgerkrieg ist allerdings in gewisser Hinsicht ein Sonderfall: Zum einen rief die Aufnahme palästinensicher Sunniten ein Ungleichgewicht in der Gesellschaft hervor, und zum anderen wurde die Regierung durch christlich-maronitische Eliten dominiert, obwohl die Bevölkerung mehrheitlich muslimisch war. Diese Dominanz der Christen rührte noch von der französischen Mandatsherrschaft her, die im Zuge einer „divide et impera“-Politik den Libanon künstlich als christlichen Staat von Syrien abgespalten hatte. Der Bürgerkrieg ist in diesem Sinne das späte Resultat einer kurzsichtigen französischen Politik.