Viele Legenden ranken sich um den Giftgasangriff in Ghouta (Damaskus) vom 21.August 2013, der fast zu einer US-Invasion in Syrien geführt hätte. Wie konnte zum Beispiel die syrische Regierung nur so unbesonnen sein, Giftgas in Damaskus einzusetzen, wo doch nur drei Tage vorher UN-Inspektoren in Damaskus eingetroffen waren – und zwar ausgerechnet zu dem Zweck, um Untersuchungen zu früheren Vorwürfen zu Giftgaseinsätzen anzustellen? Von einem vernünftigen Diktator hätte man doch besseres Timing erwarten können. Noch dazu war Assads Armee zu diesem Zeitpunkt auf dem Vormarsch, es gab also kein Motiv für ihn, eine solche Kamikaze-Aktion durchzuführen.
Der Pulitzerpreisträger Seymour Hersh hat Recherchen zu diesem Thema angestellt und zwei Artikel (2013 und 2014) darüber veröffentlicht, worauf auch in unseren Medien weitläufig hingewiesen wurde. Den zweiten Artikel [von 2014] halte ich für so wichtig, dass ich nicht umhinkonnte, ihn zu übersetzen und hier auf meine Webseite zu stellen. Auf der Website von Lettre International sind auch Auszüge aus Hershs Artikel übersetzt (den ganzen Artikel findet man wohl im zugehörigen Heft) – wer also nicht die gesamte Analyse durchlesen will, sondern sich nur für die wesentlichen Punkte interessiert, kann auch diese Version nehmen. (Ich habe mich im Übrigen nicht an dieser Übersetzung orientiert.) In der ein oder anderen Form aber sollte jeder, der sich für Syrien interessiert, Hershs Artikel gelesen haben.

„Red Line“ und „Rat Line“
Seymour M. Hersh über Obama, Erdogan und die syrischen Rebellen

2011 führte Barack Obama eine alliierte militärische Intervention in Libyen an, ohne zuvor den US Kongress konsultiert zu haben. Nach der Sarin-Attacke auf Ghouta, einen Vorort von Damaskus [21.August 2013], war er bereit, einen alliierten Luftangriff auf Syrien zu starten, mit der Begründung, die syrische Regierung habe angeblich die „rote Linie“ – nämlich den Einsatz von chemischen Waffen – die er 2012 festgesetzt hatte, überschritten. Nur zwei Tage vor dem geplanten Beginn der Operation verkündete er jedoch, sich zuerst die Zustimmung des Kongresses einholen zu wollen. Da sich der Kongress auf Anhörungen vorbereiten musste, wurde der Angriff zunächst verschoben und schließlich ganz abgeblasen, als Obama Assads Angebot annahm, sein chemisches Arsenal gemäß einem von Russland vermitteltem Deal aufzugeben. Weshalb verzögerte Obama zunächst den Angriff auf Syrien und gab ihn dann ganz auf, wo er doch mit Libyen keine großen Umstände gemacht hatte? Die Antwort liegt in einem Konflikt zwischen der Administration, die sich durch das angebliche Überschreiten der „roten Linie“ zum Handeln gezwungen sah, und den militärischen Führern, die einen Kriegseinsatz als ungerechtfertigt und potentiell verheerend einstuften, begründet.
Der Ursprung von Obamas Sinneswandel liegt in Porton Down, dem „Defense Laboratory“ in Wiltshire. Der britische Nachrichtendienst hatte eine Probe des Sarins, welches am 21. August [2013] verwendet worden war, besorgt. Die Analyse hatte ergeben, dass das verwendete Gas nicht mit dem Fertigungslos, das sich im Besitz des syrischen Chemiewaffenarsenals befand, übereinstimmte. Die Nachricht, dass die Anklage gegen Syrien nicht aufrechterhalten werden konnte, wurde rasch an den Vereinigten Generalstab weitergegeben. Der britische Bericht erhöhte die Zweifel im Pentagon; die Generalstabschefs bereiteten sich bereits darauf vor, Obama zu warnen, dass seine Pläne für einen weitreichenden Luftangriff auf Syriens Infrastruktur zu einem ausgeweiteten Krieg im Mittleren Osten führen könnte. In der Folge überreichten die amerikanischen Offiziere dem Präsidenten eine Warnung in letzter Minute, welche aus ihrer Sicht schließlich für seine Entscheidung, den Angriff abzublasen, verantwortlich war.
Unter den hochrangigen militärischen Führern und innerhalb des Geheimdienstes hatte es bereits seit Monaten scharfe Bedenken hinsichtlich der Rolle von Syriens Nachbarn, speziell der Türkei, im syrischen Bürgerkrieg gegeben. Es war bekannt, dass Premierminister Recep Erdogan die al-Nusra-Front – eine jihaddistische Gruppe unter den syrischen Rebellen – unterstützte sowie auch andere islamistische Rebellengruppen. „Wir wussten, dass es einige Leute in der türkischen Regierung gab“, so sagte mir ein ehemaliger ranghoher Geheimdienstbeamter, der Zugang zu aktuellen Nachrichtendienstinformationen hat, „die glaubten, Assad an die Wand drängen zu können, indem man in Syrien mit einer Sarin-Attacke herumstümpert, um so Obama zu zwingen, seine Drohung bezüglich der „roten Linie“ wahrzumachen.“
Auch war den Stabschefs bekannt, dass die öffentlichen Äußerungen der Obama-Administration, nur die syrische Armee habe Zugang zu Sarin, nicht der Wahrheit entsprachen. Dem amerikanischen und britischen Geheimdienst war seit dem Frühling 2013 bekannt, dass einige Rebelleneinheiten chemische Waffen entwickelten. Am 20.Juni [2013] erstellten Analytiker des amerikanischen Militärgeheimdienstes [Defense Intelligence Agency: DIA] ein fünfseitiges Themenpapier hoher Geheimhaltungsstufe für den stellvertretenden Direktor des DIA, David Shedd, worin zu lesen war, dass al-Nusra eine Sarinproduktionseinheit unterhielt. Das Programm, so hieß es weiter in dem Dokument, sei das am weitesten fortgeschrittene Sarin-Komplott seit al-Qaidas Bemühungen vor dem 11.September. (Einem Berater des Außenministeriums zufolge wusste der amerikanische Geheimdienst schon lange davon, dass al-Qaida mit chemischen Waffen experimentierte, und sei sogar im Besitz eines Videos, auf welchem Gas-Experimente der Gruppe an Hunden zu sehen seien.) Weiterhin steht in dem Papier: ‘Bisher war der Fokus der Geheimdienste fast ausschließlich auf das Chemiewaffenarsenal der syrischen Armee gerichtet gewesen; nun stellt sich heraus, dass die al-Nusra-Front versucht, ihr eigenes Arsenal aufzubauen … Al-Nusras relativ großer Operationsspielraum verleitet uns zu der Annahme, dass die Bestrebungen al-Nusras nach Chemiewaffen in Zukunft nicht einfach zu unterbinden sein werden.‘ Das Papier bedient sich klassifizierter Informationen von verschiedenen Agenturen: ‚Chemielieferanten mit Sitz in der Türkei und Saudi Arabien versuchten, Sarin-Vorstufen in rauen Mengen – Dutzende Kilogramm – herzustellen, vermutlich für eine bevorstehende Großproduktion in Syrien.‘
(Nach diesem DIA-Themenpapier gefragt, erwiderte ein Sprecher des Direktors der DIA: „Ein solches Papier wurde weder verlangt noch von Analytikern erstellt.“
Im Mai letzten Jahres [also Mai 2013] wurden mehr als zehn Mitglieder der al-Nusra-Front im Süden der Türkei mit zwei Kilogramm Sarin verhaftet. So teilte es die örtliche Polizei der Presse mit. In einer 130-seitigen Anklageschrift wurde der Gruppe vorgeworfen, versucht zu haben, Zünder, Rohre für Mörser und Sarinvorstufen zu erwerben. Fünf der inhaftierten Männer wurden nach kurzer Inhaftierung auf freien Fuß gesetzt. Die anderen, einschließlich des Anführers Haytham Qassab, für welchen der Staatsanwalt eine 25-jährige Haftstrafe gefordert hatte, wurden bis zur Verkündung des Gerichtsurteils freigelassen. Unterdessen grassierten in der türkischen Presse Spekulationen darüber, ob die Erdogan-Administration den Grad ihres Engagements für die Rebellen vertuscht hatte. In einer Pressekonferenz im Sommer 2013 behauptete die türkische Botschafterin in Moskau gegenüber der Presse, bei dem aufgefundenen „Sarin“ handele es sich lediglich um „Frostschutzmittel“.
Das DIA-Papier sah in den Verhaftungen einen Beweis, dass al-Nusra seinen Zugang zu chemischen Waffen ausbaute. Qassab habe sich als Mitglied al-Nusras zu erkennen gegeben. Er stehe in direktem Kontakt zu abd-al-Ghani, dem ‚al-Nusra-Emir für die Militärproduktion‘. Quassab und sein Mitarbeiter Khalid Ousta arbeiteten mit Halit Unalkaya zusammen, einem Angestellten einer türkischen Firma namens ‚Zirve Export‘, welcher ‚Preisangebote für Großmengen von Sarinvorstufen‘ machte. Abd-al-Ghanis Plan gemäß ’sollten zwei Mitarbeiter einen Sarinproduktionsprozess perfektionieren und dann nach Syrien gehen, um ihr Wissen dort anderen zu vermitteln.‘ Im DIA-Papier heißt es weiterhin, dass einer seiner Mitarbeiter eine Sarinvorstufe auf dem ‚Baghad Chemiemarkt‘ erworben hatte, welche ‚zu mindestens sieben Versuchen, chemische Waffen herzustellen, beigetragen hat.‘
Im März und April 2013 fanden in Syrien eine Reihe von Angriffen mit Chemiewaffen statt, welche über die nächsten Monate von einer speziellen UN-Mission in Syrien untersucht wurden. Eine Person, welche sich mit den Aktivitäten der UN in Syrien auskennt, erzählte mir, dass es Indizien dafür gäbe, dass die syrische Opposition am ersten Anschlag, welcher am 19.März in Khan al-Assal, einem Dorf in der Nähe von Aleppo stattgefunden hatte, beteiligt gewesen sei. In ihrem im Dezember herausgegebenen Abschlussbericht sagte die UN-Mission, dass unter den Todesopfern mindestens 19 Zivilisten und ein syrischer Soldat seien, hinzu kämen noch viele Verletzte. Die Mission hatte kein Mandat, einer Partei die Schuld zuzuweisen, aber mein Informant sagte mir: „Die Ermittler haben die Personen an den Tatorten befragt, einschließlich der Ärzte, die die Opfer behandelt hatten. Es war eindeutig, dass die Rebellen das Gas eingesetzt hatten. Das kam nicht an die Öffentlichkeit, weil es keiner hören wollte.“
In den Monaten vor den ersten Giftgasattacken, so sagte mir ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Verteidigungsministeriums, habe die DIA täglich einen klassifizierten Bericht, der als SYRUP bekannt ist, an Mitarbeiter verteilt. Der Bericht enthielte alle Informationen, die mit Syrien in Bezug stünden, einschließlich Material über chemische Waffen. Im Frühling [2013] jedoch sei die Verbreitung desjenigen Teils des Berichts, der sich mit den chemischen Waffen beschäftigte, auf Anweisungen von Denis McDonough, dem Stabschef des Weißen Hauses, stark eingeschränkt worden. „Etwas hat McDonough plötzlich stark beunruhigt“, sagte der ehemalige Beamte des Verteidigungsministeriums. „Die chemischen Waffen waren ein wichtiger Punkt – und von einem Tag auf den anderen wurde nicht mehr darüber berichtet.“ Die Entscheidung, die Verteilung einzuschränken, wurde zu dem Zeitpunkt getroffen, als die Stabschefs sich mit der Verwirklichung einer möglichen Bodenoffensive in Syrien beschäftigten, deren Hauptzweck die Eliminierung von chemischen Waffen sein sollte.
Der weiter oben erwähnte ehemalige Geheimdienstbeamte sagte mir, dass viele Mitarbeiter der nationalen Sicherheitseinrichtungen über die „rote Linie“ des Präsidenten besorgt gewesen seien: „Der Vereinigte Generalstab fragte das Weiße Haus: ‚Was ist unter ‚roter Linie‘ eigentlich zu verstehen? Wie übersetzt man ‚rote Linie‘ in konkrete militärische Befehle? Bodentruppen? Massive Schläge? Begrenzte Schläge?‘ Der Vereinigte Generalstab beauftragte den Militärgeheimdienst, sich damit zu beschäftigen, wie die Drohung ausgeführt werden könnte. Über den Gedankengang des Präsidenten fanden die Generale nichts heraus.“
Nach der Giftgasattacke vom 21.August wies Obama das Pentagon an, Ziele für eine mögliche Bombardierung ausfindig zu machen. Am Anfang des Prozesses, so der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, „wies das Weiße Haus 35 Ziele zurück, die der Vereinigte Generalstab vorgeschlagen hatte, mit der Begründung, diese seien nicht genügend ‚schmerzhaft‘ für das Assad-Regime. Diese ursprünglichen Ziele schlossen nur Militäreinrichtungen mit ein und keine zivile Infrastruktur. Unter Druck des Weißen Hauses weitete sich der US-Angriffsplan zu einem „Monsterschlag“ aus: Zwei Geschwader von B-52-Bombern wurden auf Luftwaffenbasen in der Nähe von Syrien verschoben, und U-Boote der Navy sowie mit Tomahawk-Marschflugkörpern ausgestattete Schiffe wurden in Stellung gebracht. „Mit jedem Tag, der verstrich, wurde die Liste der Angriffsziele länger“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte. „Die Planer im Pentagon sagten, es könnten nicht nur Tomahawks verwendet werden, um Syriens Raketenstellungen zu attackieren, weil deren Sprengköpfe zu tief unter Grund lägen. Also wurden B-52-Langstreckenbomber mit 2000-Pfund Bomben mit auf die Liste gesetzt. Dann wurden noch einsatzbereite Search-and-Rescue-Teams benötigt, um abgestürzte Piloten zu finden. Man benötigte Drohnen für die Zielausmusterung. Der Einsatz wurde eine Riesenoperation.“ Die neue Zielliste war darauf ausgelegt, „alle militärischen Kapazitäten in Assads Besitz auszulöschen.“ Die Kernziele schlossen Stromnetze, Öl- und Gasdepots, alle bekannten Logistik- und Waffendepots, alle bekannten Kommando- und Kontrolleinrichtungen sowie alle bekannten Militär- und Geheimdienstgebäude mit ein.
Großbritannien und Frankreich sollten beide eine Rolle bei diesem Vorhaben spielen. Am 29.August votierte das Parlament gegen Camerons Gesuch, sich der Intervention anzuschließen. Der „Guardian“ berichtete, dass Cameron bereits angeordnet hatte, sechs Typhoon-Kampfjets der britischen Luftwaffe auf Zypern zu stationieren. Zudem hatte er angeboten, ein U-Boot zur Verfügung zu stellen, von welchem aus Tomahawk-Marschflugkörper abgefeuert werden konnten. Einem Bericht in „Le Nouvel Observateur“ zufolge war die französische Luftwaffe – ein wichtiger Faktor beim Angriff auf Libyen – von der Idee einer Intervention in Syrien sehr angetan; François Hollande hatte Anweisungen gegeben, dass mehrere Rafale-Kampfflieger den amerikanischen Angriff unterstützen sollten. Ihre Ziele sollten im Westen Syriens liegen.
In den letzten Augusttagen [2013] hatte der Präsident dem Vereinigten Generalstab eine feste Deadline für den Angriff gesetzt. „’H-Hour‘ war für nicht später als Montagmorgen (2.September) angesetzt. Es sollte ein massiver Angriff werden, um Assad zu neutralisieren“, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. Dementsprechend war es für viele eine Überraschung, als Obama in einer Ansprache im White House Rose Garden am 31.August verkündete, dass der Angriff vorerst ausgesetzt sei, und er sich zuerst die Zustimmung des Kongresses einholen wolle.
In diesem Stadium war Obamas Prämisse – allein die syrische Armee sei in der Lage, Sarin einzusetzen – dabei, sich aufzulösen. Innerhalb weniger Tage nach dem 21.August, so sagte mir der ehemalige Geheimdienstbeamte, hatten russische Militärgeheimdienstmitarbeiter Proben des chemischen Stoffes, der bei der Giftgasattacke in Ghouta eingesetzt worden war, geborgen. Nachdem sie die Probe analysiert hatten, gaben sie sie an den britischen Geheimdienst weiter; das war die Probe, die schließlich nach Porton Down gelangte. (Ein Sprecher von Porton Down sagte: „Viele der in Großbritannien analysierten Proben wurden positiv auf das Nervengas Sarin getestet.“ MI6 sagte, es würde sich nicht zu Geheimdienstsachen äußern.)

Der ehemalige Geheimdienstbeamte sagte, der Russe, der die Probe an die Briten weitergegeben habe, „sei eine gute Quelle – jemand mit Zugang, Kenntnis und dem Ruf, vertrauenswürdig zu sein.“ Nachdem die ersten Meldungen [Frühjahr 2013] über den Einsatz von chemischen Waffen in Syrien eingegangen waren, „versuchten die amerikanischen und britischen Geheimdienste herauszufinden, ob überhaupt Giftgas eingesetzt worden war und wenn ja, um welches Gas es sich dabei gehandelt hatte und von wem die Anschläge ausgegangen waren“, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. „Wir verwendeten Daten, die im Rahmen der Chemiewaffenkonvention ausgetauscht worden waren. Die Grundlinie der DIA bestand darin, über die Zusammensetzung aller sowjetisch fabrizierten Fertigungslose chemischer Waffen informiert zu sein. Aber wir wussten nicht, welche Fertigungslose die Assad-Regierung gegenwärtig in ihrem Arsenal hatte. Innerhalb weniger Tage nach dem Damaskus-Vorfall [Giftgasangriff vom 21.August 2013] baten wir eine Quelle in der syrischen Regierung, uns eine Liste der Fertigungslose, welche momentan im Besitz der syrischen Regierung waren, zukommen zu lassen. Deshalb konnten wir die Nichtübereinstimmung so schnell bestätigen.“

Der Vorgang sei im Frühjahr [2013] nicht so reibungslos vonstattengegangen, so der ehemalige Geheimdienstbeamte, weil die von westlichen Geheimdiensten unternommenen Studien „bezüglich des Gastyps unschlüssig waren. Der Begriff ‚Sarin‘ wurde nicht verwendet. Man diskutierte viel darüber, doch da niemand mit Sicherheit sagen konnte, welches Gas verwendet worden war, konnte man nicht behaupten, dass Assad die rote Linie Obamas überschritten hatte.“ Bis zum 21.August, so führte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter aus, „hatte die syrische Opposition allem Anschein nach dazugelernt. Bevor irgendeine Analyse gemacht werden konnte, verkündete sie, dass ‚Sarin‘ aus den Beständen der syrischen Armee [bei dem Anschlag am 21.August] verwendet worden sei. Ein gefundenes Fressen für die Presse und das Weiße Haus. Denn wenn es Sarin war, dann konnte nur Assad dafür verantwortlich sein.“
Der Verteidigungsgeneralstab Großbritanniens, der die Erkenntnisse aus Porton Down an den Vereinigten Generalstab weitergeleitet hatte, so sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, schickte den Amerikanern eine Nachricht: „Wir wurden hereingelegt.“ (Diese Darstellung wirft auch etwas Licht auf eine knappe Nachricht, die ein hochrangiger CIA-Mitarbeiter Ende August geschickt hatte: „Es war nicht das gegenwärtige Regime. UK & US wissen das.“) Zu diesem Zeitpunkt stand die Intervention unmittelbar bevor. Amerikanische, britische und französische Flugzeuge, Schiffe und U-Boote waren startbereit.
Der letztendlich für die Planung und Ausführung des Angriffs zuständige Offizier war der Chef des Vereinigten Generalstabs, General Martin Dempsey. Von Beginn der Krise an, so der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, war der Vereinigte Generalstab skeptisch gegenüber dem Argument der Administration, sie habe Beweise für ihre Behauptung, dass die Schuld bei Assad liege. Der Vereinigte Generalstab übte Druck auf die DIA und die anderen Agenturen aus, substantiellere Beweise zu liefern. „Sie glaubten nicht daran, dass Syrien Nervengas in diesem Stadium des Konflikts einsetzen würde, weil Assad dabei war, den Krieg zu gewinnen“, so der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. Dempsey hatte viele in der Obama-Administration verärgert, indem er den Kongress wiederholt im Laufe des Sommers vor den Gefahren eines amerikanischen Militäreinsatzes in Syrien gewarnt hatte. Nach einer optimistischen Einschätzung zum Fortschritt der syrischen Rebellen von Außenminister John Kerry vor dem House Committee on Foreign Affairs, sagte Dempsey im April [2013] dem Senate Armed Services Committee, dass „ein Risiko besteht, dass dieser Konflikt bereits festgefahren ist“.
Dempseys ursprüngliche Einschätzung nach dem 21.August war, dass ein US-Angriff auf Syrien – unter der Annahme, die Assad-Regierung sei für die Sarin-Attacke verantwortlich – ein militärischer Missgriff sei, so der ehemalige Geheimdienstbeamte. Der Porton-Down-Bericht veranlasste den Vereinigten Generalstab, mit einer noch tieferen Sorge zum Präsidenten zu gehen: Dass der vom Weißen Haus gewünschte Angriff ein Akt ungerechtfertigter Aggression sei. Es war der Vereinigte Generalstab, der für Obamas Kurswechsel verantwortlich war. Die offizielle Erklärung des Weißen Hauses für die Kehrtwendung – wie es auch in der Presse nachzulesen war – war, dass der Präsident während eines Spaziergangs im Rose Garden mit Denis McDonough, dem Stabschef des Weißen Hauses, plötzlich entschied, die Zustimmung des Kongresses zu suchen – eines Kongresses, mit welchem er im Übrigen seit Jahren auf Kriegsfuß stand. Der ehemalige Beamte des Verteidigungsministeriums erzählte mir, dass das Weiße Haus für die Mitglieder der zivilen Führung des Pentagons eine andere Erklärung bereithatte: Der Angriff sei abgeblasen worden, weil es Informationen gäbe, „dass der Mittlere Osten in Flammen aufgehen würde“, wenn die Aktion ausgeführt würde.
Die Entscheidung des Präsidenten, sich die Zustimmung des Kongresses einzuholen, wurde ursprünglich von langjährigen Mitarbeitern des Weißen Hauses als Wiederauflage von George W. Bushs Gambit vor der Invasion des Iraks gesehen. „Als es klar wurde, dass es keine Massenvernichtungswaffen im Irak gab, teilte sich der Kongress, der den Irakkrieg befürwortet hatte, mit dem Weißen Haus die Schuld. Beide hatten wiederholt falsche Informationen zitiert. Wenn der jetzige Kongress einer Invasion Syriens zustimmen würde, könnte das Weiße Haus erneut zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits Syrien einen massiven Schlag zu verpassen und somit der Verpflichtung nachzukommen, die der Präsident mit seiner ‚roten Linie‘ gesetzt hatte, und andererseits die Vorwürfe mit dem Kongress teilen zu können, falls es sich herausstellen sollte, dass die syrische Armee nicht für die Giftgasattacke verantwortlich war“, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. Die Kehrtwende kam sogar für die demokratische Führung im Kongress überraschend. Im September 2013 berichtete das „Wall Street Journal“, dass Obama drei Tage vor seiner Rose-Garden-Rede mit Nancy Pelosi, der Vorsitzenden der demokratischen Fraktion im Kongress, telefoniert habe, „um die Optionen durchzusprechen“. Laut dem „Wall Street Journal“ sagte sie später zu Kollegen, dass sie den Präsidenten nicht darum gebeten habe, die Zustimmung des Kongresses für die Invasion zu ersuchen.
Obamas Schachzug erwies sich schon bald als Sackgasse. „Der Kongress gab deutlich zu verstehen, dass es im Gegensatz zur Autorisation für den Irakkrieg diesmal substantielle Anhörungen geben würde“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte. Zu diesem Zeitpunkt herrschte eine fast verzweifelte Atmosphäre im Weißen Haus vor, so der ehemalige Geheimdienstbeamte. „Also kam es zu Plan B: Man blase den Angriff ab, und Assad würde zustimmen, unilateral den Vertrag über chemische Kriegsführung zu unterzeichnen und die Zerstörung seiner Chemiewaffen unter UN-Supervision anzuordnen.“ Bei einer Pressekonferenz in London am 9.September sprach Kerry noch immer über eine Intervention: „Durch Nichthandeln gehen wir ein größeres Risiko ein als durch Handeln.“ Aber als ein Reporter fragte, ob es irgendetwas gäbe, dass Assad tun könnte, um die drohende Invasion seines Landes aufzuhalten, erwiderte Kerry. „Natürlich. Er könnte alle seine chemischen Waffen an die internationale Gemeinschaft abgeben und zwar innerhalb der nächsten Woche … Aber das wird er nicht tun, und es lässt sich offensichtlich auch nicht bewerkstelligen.“ Wie die „New York Times“ am darauffolgenden Tag berichtete, war das von Russland vermittelte Abkommen, das wenig später Gestalt annehmen sollte, erstmalig von Obama und Putin im Sommer 2012 diskutiert worden. Obwohl die Angriffspläne zurückgestellt waren, änderte die Administration die öffentliche Einschätzung nicht. „Auf diesem Level gibt es Null Toleranz für Fehler“, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter über die hochrangigen Beamten im Weißen Haus. „Sie konnten es sich nicht leisten, zu sagen: ‚Wir haben uns geirrt‘.“ (Der DNI [„Director of National Intelligence“]-Sprecher sagte: „Das Assad-Regime, und nur das Assad-Regime hätte für die Chemiewaffenattacke vom 21.August verantwortlich sein können.“)
Das ganze Ausmaß der Kooperation der USA mit der Türkei, Saudi-Arabien und Katar bei der Unterstützung der Rebellenopposition in Syrien ist noch nicht ans Licht gekommen. Die Obama-Administration hat niemals öffentlich ihre Rolle bei der Entstehung eines Back-Channel-Highways nach Syrien, von der CIA „rat line“ [„Rattentunnel“] genannt, zugegeben. Die im Frühjahr 2012 autorisierte „rat line“ wurde benutzt, um Waffen und Munition von Libyen über den Süden der Türkei nach Syrien zu schmuggeln, wo sie dann der Opposition übergeben wurden. Viele derjenigen, in deren Hände die Waffen letztendlich gelangten, waren Jihaddisten; einige davon standen al-Qaida nahe. (Der DNI-Sprecher sagte: „Die Idee, dass die USA Waffen aus Libyen an irgendjemanden geliefert hat, ist falsch.“)
Im Januar gab das Senate Intelligence Committee einen Bericht heraus, der sich mit dem Angriff einer örtlichen Miliz auf das amerikanische Konsulat und eine nahegelegene Undercover-CIA-Einrichtung in Bengasi [Libyen] im September 2012 beschäftigt, bei welchem der US-Botschafter, Christopher Stevens und drei weitere Mitarbeiter ums Leben gekommen waren. Der Bericht kritisierte das Außenministerium für die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen des Konsulats sowie die Nachrichtenagenturen, weil diese das US-Militär nicht über die Anwesenheit eines CIA-Außenpostens in der besagten Gegend informiert hatten. Dies erschien auf den Titelseiten und belebte alte Feindseligkeiten in Washington wieder. Republikaner beschuldigten Obama und Hillary Clinton der Vertuschung. Ein nicht öffentlich gemachter Anhang hoher Geheimhaltungsstufe zu diesem Bericht beschrieb ein geheimes Abkommen zwischen den Administrationen Obamas und Erdogans. Es betraf die „rat line“. Den Bedingungen der Vereinbarung gemäß kam die Finanzierung von der Türkei sowie Saudi Arabien und Katar; die CIA, mit der Unterstützung durch das MI6, war verantwortlich dafür, Waffen von Gaddafis Arsenalen nach Syrien zu transportieren. Eine Reihe von Scheingesellschaften wurde in Libyen angesiedelt, einige davon unter dem Deckmantel von australischen Organisationen. Aus der Armee ausgeschiedene amerikanische Soldaten, die nicht immer wussten, für wen sie in Wirklichkeit arbeiteten, wurden angeworben, um Beschaffung und Verschiffung zu regeln. Die Operation wurde von David Petraeus geleitet, dem CIA-Direktor, der schon bald von seinem Posten zurücktreten würde, als bekannt wurde, dass er eine Affaire mit seiner Biographin hatte. (Ein Sprecher Petraeus‘ leugnete, dass eine solche Operation jemals stattgefunden habe.)
Die Operation war noch nicht aufgedeckt gewesen, als sie dem Geheimdienstausschuss des Kongresses und der Führung des Kongresses vorgelegt wurde, wie vom Gesetz seit den 1970ern verlangt. Die Beteiligung des MI6 hatte es der CIA ermöglicht, das Gesetz zu umgehen, indem es die Mission als eine Zusammenarbeitsoperation klassifizierte. Der ehemalige Geheimdienstbeamte führte aus, dass es seit Jahren eine anerkannte Ausnahme im Gesetz gab, die es der CIA erlaubt, verdeckte Missionen, die in Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten ausgeführt werden, nicht dem Kongress vorlegen zu müssen. (Generell müssen alle verdeckten Operationen der CIA in einem Dokument, bekannt als „Finding“, dargelegt und der Führung des Kongresses zur Zustimmung übergeben werden.) Die Verteilung des Anhangs [des oben erwähnten Bengasi-Berichts] war auf die acht ranghohen Kongressmitglieder beschränkt: die demokratischen und republikanischen Führer des Repräsentantenhauses und des Senats und die demokratischen und republikanischen Führer der Geheimdienstausschüsse des Repräsentantenhauses und des Senats. Als aufrichtigen Versuch, Übersicht zu geben, kann man das eher nicht werten.

In besagtem Anhang wurde nicht die ganze Geschichte dessen erzählt, was in Bengasi vor dem Anschlag passiert war, noch wurde erklärt, weshalb das amerikanische Konsulat angegriffen worden war. „Die einzige Aufgabe des Konsulats war es, Deckung für die Lieferung von Waffen zu geben“, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, der den Anhang gelesen hat. „Es hatte keine wirkliche politische Rolle.“
Nach dem Angriff auf das Konsulat nahm die Rolle der CIA beim Waffentransfer aus Libyen ein abruptes Ende, doch die „rat line“ blieb bestehen. „Die Vereinigten Staaten hatten nicht mehr länger unter Kontrolle, was die Türken an die Jihaddisten weitergaben“, sagte der ehemlige Geheimdienstmitarbeiter. Innerhalb weniger Wochen waren sage und schreibe 40 tragbare Flugabwehrraketenwerfer, gemeinhin bekannt als „MANPADS [Man Portable Air Defence System, ein schultergestützter Raketenwerfer]“, in die Hände der syrischen Rebellen gelangt. Am 28.November 2012 berichtete Joby Warrick von der Washington Post, dass am Vortag Rebellen in der Nähe von Aleppo einen syrischen Transporthelikopter abgeschossen hätten, und zwar mit einer Waffe, die fast mit Sicherheit ein „MANPAD“ war. „Die Obama-Administration“, schrieb Warrick, „hat standfast abgelehnt, die syrische Opposition mit solchen Geschossen auszustatten, weil die Waffen in die Hände von Terroristen fallen und von diesen dazu verwendet werden könnten, zivile Flugobjekte abzuschießen.“ Zwei Geheimdienstbeamte aus dem Mittleren Osten beschuldigten Katar als Quelle, und ein ehemaliger US-Geheimdienstanalytiker spekulierte, ob die „MANPADS“ vielleicht aus von Rebellen überrannten syrischen Militäraußenposten stammten. Es gab keine Andeutung, dass der Umstand, dass die Rebellen „MANPADS“ besaßen, wahrscheinlich die unbeabsichtigte Folge eines verdeckten US-Programms war, welches nicht länger unter US-Kontrolle war.
Gegen Ende 2012 glaubte man innerhalb der amerikanischen Nachrichtendienste, dass die Rebellen dabei waren, den Krieg zu verlieren. „Erdogan war wütend“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte, „und fühlte sich hängengelassen. Es handelte sich schließlich um sein Geld, und so sah er im Ausstieg der Amerikaner so etwas wie Verrat.“ Im Frühjahr 2013 fand der US-Geheimdienst heraus, dass die türkische Regierung – mit Hilfe von Elementen des MIT, ihres nationalen Geheimdienstes, und der Gendarmerie – direkt mit al-Nusra und seinen Alliierten zusammenarbeitete, um ein chemisches Kriegsführungspotential zu entwickeln. „Das MIT organisierte die Zusammenarbeit mit den Rebellen, während die Gendarmerie militärische Logistik, Vor-Ort-Beratung und Training handhabte – einschließlich Training in chemischer Kriegsführung“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte. „Die Intensivierung der Rolle der Türkei im Frühjahr 2013 wurde als Schlüssel ihrer Probleme dort angesehen. Erdogan wusste, dass alles vorbei wäre, wenn er aufhören würde, die Jihaddisten zu unterstützen. Die Saudis könnten aufgrund logistischer Probleme den Krieg nicht unterstützen: Die involvierten Entfernungen waren zu groß, wie auch die Schwierigkeiten bei Beschaffung und Transport von Waffen. Erdogans Hoffnung war, ein Ereignis zu forcieren, welches die USA zwingen würde, die rote Linie zu überschreiten. Aber Obama reagierte nicht im März und April.“
Erdogan und Obama trafen sich am 16.Mai 2013 im Weißen Haus. Auf einer späteren Presskonferenz sagte Obama, dass sie übereingekommen seien, dass Assad „gehen müsse“. Als er gefragt wurde, ob er glaube, dass Syrien die „rote Linie“ überschritten habe, räumte Obama ein, dass es Hinweise gäbe, dass solche Waffen benutzt worden waren, fügte jedoch hinzu, dass „es wichtig für uns ist, spezifischere Informationen darüber zu erhalten, was wirklich dort vorgeht.“ Die „rote Linie“ war also immer noch intakt.

Ein amerikanischer Außenpolitikexperte, der oft mit offiziellen Vertretern in Washington und Ankara spricht, erzählte mir von einem Geschäftsessen, das Obama für Erdogan während dessen Besuch im Mai halten ließ. Das Mahl wurde dominiert vom Insistieren der Türken, dass Syrien die rote Linie überschritten habe, und ihren Beschwerden, dass Obama nichts unternehmen wollte. Obama wurde von John Kerry und Tom Donilon, dem nationalen Sicherheitsberater, der bald aus dem Amt treten würde, begleitet. Mit Erdogan waren Ahmet Davutoglu – der Außenminister der Türkei – und Hakan Fidan, der Chef des MIT gekommen. Fidan ist für seine Loyalität gegenüber Erdogan bekannt, und galt als konsistenter Unterstützer der radikalen Rebellenopposition in Syrien.
Der Außenpolitikexperte sagte mir, dass die Darstellung, die er gehört hatte, von Donilon ausging. (Es wurde später von einem ehemaligen US-Beamten bestätigt, dem von einem ranghohen türkischen Diplomaten davon erzählt worden war.) Gemäß dem Experten hatte Erdogan ein Treffen mit Obama gesucht, um diesen davon zu überzeugen, dass die rote Linie überschritten worden war. Er brachte Fidan mit, um den Fall darzulegen. Als Erdogan versuchte, Fidan ins Gespräch zu ziehen, und Fidan zu sprechen anhob, unterbrach Obama ihn mit den Worten: „Das wissen wir.“ Erdogan versuchte, Fidan ein zweites Mal einzubinden, und wieder unterbrach Obama und sagte: „Das wissen wir.“ An diesem Punkt sagte der aufgebrachte Erdogan: „Aber Ihre rote Linie ist überschritten worden!“ Der Außenpolitikexperte sagte mir, Erdogan habe sogar „dem Präsidenten mit dem Finger gedroht, und das im Weißen Haus.“ Obama deutete dann auf Fidan und sagte: „Wir wissen, was ihr mit den Radikalen in Syrien macht.“ (Donilon, der das Council on Foreign Relations im letzten Juli besucht hat, wollte nicht auf diese Episode betreffende Fragen antworten. Das türkische Außenministerium antwortete nicht auf Fragen bezüglich dieses Dinners. Eine Sprecherin des National Security Councils bestätigte, dass das Dinner stattfand und stellte eine Fotografie zur Verfügung, die Obama, Kerry, Donilon, Erdogan, Fidan und Davutoglu, die um einen Tisch herumsitzen, zeigt. „Darüber hinaus”, sagte sie, „werde ich nichts zu den Details der dort geführten Gespräche sagen.“)
Doch Erdogan ging nicht mit leeren Händen. Obama erlaubte der Türkei, weiterhin ein Schlupfloch in einem Präsidialerlass, der den Export von Gold in den Iran (Teil der US-Sanktionen gegen den Iran) verbot, für sich zu nutzen. Im März 2012 hatte das SWIFT-System, welches Transaktionen über Landesgrenzen hinweg vereinfacht, Dutzende von iranischen Finanzinstituten ausgeschlossen, was Irans Fähigkeit zu internationalem Handel stark einschränkte. Die USA folgten diesem Kurs im Juli 2012 mit einem Präsidialerlass, der jedoch ein sogenanntes „goldenes Schlupfloch“ offenließ: Gold-Verschiffungen an private iranische Organisationen konnten fortgesetzt werden. Die Türkei ist einer der größten Käufer von iranischem Öl und Gas, und sie nutzte das Schlupfloch, um ihre Energiezahlungen in türkischen Lira auf einem iranischen Konto in der Türkei zu platzieren; diese Geldmittel wurden dazu verwendet, um türkisches Gold zum Export an Verbündete im Iran zu kaufen. Gold im Wert von 13 Milliarden Dollar hat Berichten zufolge zwischen März 2012 und Juli 2013 auf diese Weise die Grenze zum Iran passiert.
Das Programm wurde schnell zu einem Goldesel für korrupte Politiker und Händler in der Türkei, dem Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten. „Die Mittelmänner taten, was sie immer tun“, sagte der ehemalige Geheimdienstoffizier. „Sie beanspruchten 15 Prozent für sich. Die CIA hatte geschätzt, dass fast zwei Milliarden Dollar abgeschöpft worden sind. Gold und türkische Lira blieben an Fingern kleben.“ Das illegale Abschöpfen flammte zu einem öffentlichen „Gas für Gold“-Skandal im Dezember in der Türkei auf. Gegen zwei Dutzend Leute, unter anderem bekannte Geschäftsmänner und Verwandte von Regierungsbeamten, wurde Anklage erhoben. Drei Minister traten zurück; einer davon forderte Erdogan auf, zurückzutreten. Der Generaldirektor einer staatlich kontrollierten Bank, die in den Skandal verwickelt war, behauptete, die mehr als 4,5 Millionen [nicht klar in welcher Währung], die die Polizei in Schuhkartonen bei der Durchsuchung seines Hauses gefunden hatte, seien für wohltätige Zwecke bestimmt gewesen.
Letztes Jahr [2013] berichteten Jonathan Schanzer und Mark Dubowitz in „Foreign Policy“, dass die Obama-Administration das „goldene Schlupfloch“ im Januar 2013 geschlossen habe, aber „ihren Einfluss genutzt habe, um sicherzustellen, dass die Gesetzgebung … sechs Monate lang nicht in Kraft treten konnte.“ Die Autoren spekulierten, dass die Administration die Verzögerung als Ansporn nehmen wollte, um den Iran wegen seines Nuklearprogramms an den Verhandlungstisch zu bringen, oder um ihren [USA-Administration] türkischen Verbündeten im syrischen Bürgerkrieg zu besänftigen. Die Verzögerung erlaubte es dem Iran, “Milliarden weitere Dollar in Gold anzuhäufen, wobei die Sanktionsregelungen weiter unterminiert würden.“
Die amerikanische Entscheidung, die CIA-Unterstützung für Waffenlieferungen nach Syrien einzustellen, ließ Erdogan in einer sowohl aus politischer als auch militärischer Sicht misslichen Lage zurück. „Eines der Themen des Gipfeltreffens vom Mai war der Umstand, dass der einzige Weg, die Rebellen in Syrien zu unterstützen, über die Türkei führt“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte. „Die Unterstützung kann nicht über Jordanien kommen, weil das Terrain im Süden offen ist und von den Syrern scharf bewacht wird. Durch die Täler und Berge des Libanon kann sie ebenfalls nicht kommen – weil man sich nicht sicher sein kann, auf wen man auf der anderen Seite trifft.“
Ohne militärische Unterstützung für die Rebellen, so der ehemalige Geheimdienstbeamte, „löst sich Erdogans Traum, Syrien in einen Satellitenstaat zu verwandeln, auf, und er hält uns für den Grund. Falls Syrien den Krieg gewinnt, so werden die Rebellen höchstwahrscheinlich für ihn zum Problem werden – wo sonst könnten sie hingehen? Er würde tausende von Radikalen in seinem Hinterhof haben.“
Ein US-Geheimdienstberater sagte mir, dass er wenige Wochen vor dem 21.August 2013 ein Papier hoher Geheimhaltungsstufe, welches für Dempsey und den Verteidigungsminister Chuck Hagel verfasst worden war, eingesehen habe. Dort war von der „akuten Angst“ der Erdogan-Administration aufgrund der schwindenden Erfolgsaussichten der Rebellen die Rede. Die Analyse warnte, dass die türkische Führung „die Notwendigkeit, etwas zu tun, das eine US-Militäroperation herbeiführt“ zum Ausdruck gebracht hatte. Im Spätsommer [2013] war die syrische Armee noch im Vorteil gegenüber den Rebellen, sagte der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter, und nur die amerikanische Luftwaffe konnte das Blatt wenden. Im Herbst, führte der ehemalige Geheimdienstbeamte weiter aus, „ahnten die US-Geheimdienstanalytiker, die sich mit den Vorgängen vom 21.August befassten, dass Syrien [syrische Armee] nicht für den Giftgasangriff verantwortlich war. Die Preisfrage war also, wer in dem Fall dafür verantwortlich war. Der unmittelbare Verdächtige war die Türkei, weil sie alle Teile hatte, mit denen so etwas bewerkstelligt werden konnte.“
Als abgefangene Meldungen und andere mit der Giftgasattacke vom 21.August in Zusammenhang stehende Informationen zusammengetragen worden waren, sahen sich die Nachrichtendienste mehr und mehr in ihrem Verdacht bestätigt. „Wir wissen jetzt, dass es eine verdeckte Aktion war, die von Erdogans Leuten geplant war, um Obama über die rote Linie zu stoßen“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte. „Sie mussten die Situation mit einem Giftgasangriff in oder in der Nähe von Damaskus eskalieren, wenn gerade die UN-Inspektoren in der Stadt waren“ – die UN-Inspektoren waren am 18.August 2013 in Damaskus eingetroffen, um wegen der früheren Einsätze von Gas zu ermitteln – „Es musste etwas Spektakuläres sein. Die DIA und andere Nachrichtenagenturen teilten unseren ranghohen Militäroffizieren mit, dass das Sarin durch die Türkei geliefert worden war – dass es nur mit türkischer Unterstützung dorthin gelangt sein konnte. Die Türken kümmerten sich auch um die Ausbildung in Sarinproduktion und –handhabung.“ Diese Einschätzung wurde durch die Türken selbst bekräftigt, in Form von abgefangenen Konversationen unmittelbar nach dem Anschlag. „Wesentliche Beweise kamen durch die Freude der Türken unmittelbar nach dem Angriff und den gegenseitigen Gratulationen in zahlreichen Unterhaltungen. Operationen sind immer so streng geheim während der Planung, aber alle Vorsicht ist vergessen, wenn es nach erfolgreicher Ausführung ans Schnattern geht. Niemals ist der Täter verletzlicher, als in dem Moment, in dem er Anerkennung für seinen Erfolg fordert.“ Erdogans Probleme in Syrien würden bald vorbei sein: „Das Gas geht hoch, Obama sagt ‚rote Linie‘, und Amerika wird Syrien angreifen. Das war zumindest die Idee. Aber dann ist alles anders gekommen.”
Die nach der Giftgasattacke gesammelten Nachrichten über die Türkei schafften es nicht bis ins Weiße Haus. „Niemand will über all das reden“, sagte der ehemalige Geheimdienstbeamte. „Da ist ein großes Widerstreben, dem Präsidenten zu widersprechen, obwohl keine umfassende Geheimdienstanalyse seine voreilig gezogenen Schlüsse stützte. Nachdem die Invasion dann abgeblasen worden war, gelang es dem Weißen Haus nicht, auch nur ein einziges weiteres Indiz, dass die syrische Regierung mit der Sarin-Attacke zu tun gehabt hatte, ausfindig zu machen. Meine Regierung kann nichts sagen, weil wir so unverantwortlich gehandelt haben. Und da wir nun einmal Assad beschuldigt haben, können wir keinen Rückzieher mehr machen und jetzt Erdogan anklagen.“
Die Bereitwilligkeit der Türkei, Ereignisse in Syrien zu ihrem eigenen Vorteil zu manipulieren, scheint Ende letzten Monats [März 2014] demonstriert worden zu sein, als ein paar Tage vor einer Runde von Lokalwahlen eine Aufnahme, die angeblich auf einem Sicherheitstreffen der Regierung gemacht worden war, auf YouTube gepostet wurde. Darauf war unter anderem eine Diskussion zu hören, bei der es um eine „Falsche-Flagge-Operation“ ging, um einen Einfall türkischer Truppen nach Syrien zu rechtfertigen. Bei der Operation ging es um das Grabmal Sulaiman Schahs, des Großvaters des Gründers des Osmanischen Reiches Osman I., welches nahe Aleppo liegt und 1921, als Syrien unter französischer Herrschaft war, an die Türkei abgetreten worden war. Eine der islamistischen rebellischen Gruppierungen drohte damit, das Grab zu zerstören, weil es eine Stätte der Götzenverehrung sei. Die Erdogan-Administration drohte öffentlich mit Vergeltungsmaßnahmen, sollte der Grabstätte Leid widerfahren. Gemäß einem Reuters-Bericht über die geleakte Konversation, sprach eine Stimme, die vermutlich Fidan gehört, davon eine Provokation zu kreieren: „Hören Sie, mein Kommandant, wenn es eine Rechtfertigung geben muss, dann schicke ich eben vier Männer auf die andere Seite und lasse sie acht Geschosse auf leeres Gebiet (in der Nähe des Grabmals) abfeuern. Das ist kein Problem. Eine Rechtfertigung kann kreiert werden.” Die türkische Regierung räumte ein, dass es ein Sicherheitsmeeting über von Syrien ausgehende Bedrohungen gegeben habe, sagte aber, dass die Aufzeichnung manipuliert worden sei. In der Folge blockierte die Regierung den öffentlichen Zugang zu YouTube.
Sofern keine größere Veränderung in Obamas Politik stattfindet, wird sich die Türkei wohl weiterhin in den syrischen Bürgerkrieg einmischen. „Ich fragte meine Kollegen, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, Erdogans Unterstützung für die Rebellen zu stoppen, speziell jetzt, wo alles schiefläuft“, sagte mir der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter. „Die Antwort war: ‚Wir sitzen in der Scheiße.‘ Wir könnten die Sache öffentlich machen, wenn es jemand anders als Erdogan wäre. Aber die Türkei ist ein Spezialfall. Sie ist ein NATO-Mitglied. Die Türken trauen dem Westen nicht. Sie könnten es nicht akzeptieren, wenn wir irgendeine Form von aktiver Rolle gegen türkische Interessen einnehmen würden. Wenn wir mit dem, was wir über Erdogans Rolle im Zusammenhang mit dem Gas wissen, an die Öffentlichkeit gehen würden, wäre das katastrophal. Die Türken würden sagen: ‚Wir hassen euch dafür, uns vorschreiben zu wollen, was wir zu tun und was wir zu unterlassen haben.’“