1.Verfassung
Unsere bayrische Landesregierung unternimmt neuerdings in einem Pilotprojekt den löblichen Versuch, Flüchtlingen die „Grundprinzipien unserer Rechtsordnung“ beizubringen. (FAZ) Dabei stellen die Referenten überrascht fest, dass sich die Vorstellungen je nach Herkunftsland und Region erheblich unterscheiden. (So was aber auch.) Es mutet ein wenig naiv an, wenn der bayrische Justizminister, der die erste Unterrichtsstunde in seiner Heimat Aschaffenburg persönlich hält, Aussagen macht, wie: „Ich weiß nicht, wie das in Ihrem Land ist, aber wer als Amtsträger hier einen Gefallen oder Geld annimmt, macht sich strafbar. Das ist ganz wesentlich.“ Die meisten Menschen wissen, dass Korruption ein Verbrechen ist – ob sie im Staat xy dennoch praktiziert wird, ist eine ganz andere Frage. Dementsprechend reagiert ein syrischer Flüchtling auf die Frage des Journalisten hin, ob er denn an diesem Tage viel Neues dazugelernt hätte, mit höflicher Zurückhaltung: „Salar Ali, ein junger Syrer aus Damaskus, lächelt etwas verlegen auf die Frage, ob er an diesem Morgen viel Neues gelernt habe. Das sei ein gutes Projekt. „Aber vielleicht denken zu viele Menschen, dass Frauen in Syrien keine Rechte haben“, sagt er. „Die Gesetze sind bei uns gar nicht so verschieden – sie gelten nur nicht mehr.“ Aber, spricht er weiter, unter anderen Flüchtlingen seien viele Menschen mit wenig Bildung, und für die sei so ein Unterricht sicher gut.“ (FAZ)
Und in der Tat schmeißen zu viele Menschen alle Länder des Mittleren Ostens in einen Topf. In Wirklichkeit gibt es eine Vielzahl von Abstufen zwischen dem quasi-säkularen Syrien, dem Iran, der toleranter ist, als man allgemein annimmt (zum Beispiel sind geschlechtsumwandelnde Operationen erlaubt, und die Person wird in ihrem neuen Geschlecht rechtlich voll anerkannt, was sehr progressiv ist für eine islamisch geprägte Nation) bis hin zu Saudi Arabien, wo Frauen das Autofahren nicht erlaubt ist. Allerdings muss hinsichtlich Syriens beachtet werden, dass ein signifikanter Unterschied zwischen Stadt und Land besteht. Wie in jedem anderen Staat auch ist die Landbevölkerung merklich konservativer: In Latakia baden die Frauen im Bikini im Meer, während sie in ländlichen Gegenden Kopftuch tragen. Wohlgemerkt, der Druck auf die Frauen geht von der Gesellschaft selbst aus, und nicht etwa vom Staat. Die Assad-Regierung hatte vor einigen Jahren (2010) sogar ein Gesetz erlassen, dass es Frauen, die im Bildungssektor tätig sind, verbietet, einen Gesichtsschleier zu tragen (Süddeutsche). Dieses Gesetz musste allerdings während des Bürgerkriegs wegen des Erstarkens des Islamismus wieder abgeschafft werden (Spiegel).
Wenn man sich die syrische Verfassung, die von 1973 bis 2012 in Kraft war, ansieht, stellt man fest, dass sie unserem Grundgesetz in humanitärer Ansicht nicht wirklich nachsteht:
So sagt Artikel 25 über Freiheit und Gleichheit:
1) Freiheit ist ein heiliges Recht. Der Staat beschützt die persönliche Freiheit seiner Bürger und garantiert ihre Würde und Sicherheit.
2) Die Rechtsstaatlichkeit („Supremacy of Law“) ist ein fundamentales Prinzip in Gesellschaft und Staat.
3) Die Bürger sind in ihren Rechten und Pflichten gleich vor dem Gesetz.
4) Der Staat bekräftigt das Prinzip gleicher Möglichkeiten für alle Bürger.

Artikel 35 äußert sich zur Religion:
1) Die Glaubensfreiheit wird garantiert. Der Staat respektiert alle Religionen.
2) Der Staat garantiert die freie Ausübung aller religiösen Praktiken, solange sie nicht die öffentliche Ordnung stören. (Anmerkung: Würde also jemand ein Tieropfer mitten auf dem Marktplatz bringen wollen, dann dürfte er das wohl nicht.)

Aus diversen Zeitungsartikeln habe ich den Eindruck erhalten, dass manche wohlmeinenden Helfer sogar meinen, in Syrien gäbe es keine Schulpflicht, ja, überhaupt kein geregeltes Schulsystem. Hierzu gibt Artikel 37 Aufschluss:
Erziehung ist ein Recht, das vom Staat garantiert wird. Elementare Bildung ist verpflichtend und alle Bildung ist kostenlos.

Allerdings muss zwischen dem Gesetz und seiner strikten Einhaltung unterschieden werden. Es mag sehr wohl ländliche Gegenden geben, wo der ein oder andere Bauer seine Kinder nicht zur Schule schicken und stattdessen bei der Feldarbeit mithelfen lassen.

Und sogar die Meinungsfreiheit ist in der Verfassung verankert (wie das in der Praxis aussieht, ist eine andere Frage):
Artikel 38:
Jeder Bürger hat das Recht, frei und offen seine Meinung in Worten, Schrift und durch alle anderen Mittel kundzutun.
Der Staat garantiert die Freiheit der Presse, des Drucks und der Veröffentlichung im Einklang mit dem Gesetz.

Artikel 39 über die Versammlungsfreiheit mag zunächst verwundern: Beklagten die Demonstranten 2011 nicht u.a. das Versammlungsverbot? Hier muss genau unterschieden werden. Die Verfassung erlaubt Demonstrationen, allerdings war seit 1963 der „Ausnahmezustand“ ausgerufen, der u.a. derartige Demonstrationen verbot.

Artikel 39:
Die Bürger haben das Recht, sich im Einklang mit den Prinzipien der Verfassung zu versammeln und friedlich zu demonstrieren. Das Gesetz reguliert die Ausübung dieses Rechts.

Und explizit über die Förderung der Frauen äußert sich Artikel 45:
Der Staat garantiert Frauen alle Möglichkeiten, damit sie vollständig und effektiv im politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben teilnehmen können. Der Staat hebt die Restriktionen auf, die bislang die Entwicklung der Frauen und ihre Teilnahme beim Aufbau einer sozialistischen arabischen Gesellschaft beschränkten.

Artikel 46: Versicherung
1) Der Staat kümmert sich um jeden Bürger und seine Familie in Notfällen, bei Krankheit, bei Arbeitsunfähigkeit, sowie um Waisen und alte Menschen.
2) Der Staat schützt die Gesundheit der Bürger und stellt ihnen alle Mittel zum Schutz vor Krankheiten und zu ihrer Behandlung zur Verfügung.

Hierbei handelt es sich wie gesagt um die Verfassung, die von 1973 bis 2012 in Kraft war. Mein Augenmerk liegt deshalb auf der alten Verfassung, weil sie es ist, die die Verhältnisse im Vorkriegssyrien beschreibt. Die neue Verfassung von 2012 unterscheidet sich im Wesentlichen durch die Entfernung des Artikels 8, welcher der Baath-Partei eine Vorrangstellung eingeräumt hatte, und die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei Amtsperioden. Was die sozialen Aspekte betrifft, unterscheidet sie sich inhaltlich nicht wesentlich.

Artikel 33 beispielsweise ist eine Umformulierung von Artikel 25:
Jeder Bürger genießt die gleichen Rechte und hat dieselben Pflichten. Es herrscht keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Herkunft, der Sprache, der Religion oder des Glaubens.

Dieser Artikel steht zweifellos entsprechenden Artikeln in westlichen Verfassungen um nichts nach.

Ein Artikel ist noch erwähnenswert, der in dieser Form in der alten Verfassung nicht vorkommt:
Obwohl die neue Verfassung die Vormachtstellung der Baath-Partei aufhebt und gleichberichtigte Parteien anerkennt, schließt Artikel 8 (hat nichts mit Artikel 8 der alten Verfassung zu tun; die Nummerierung der Artikel stimmt in den Verfassungen nicht überein) bestimmte Formen politischer Aktivitäten aus:
Politische Aktivitäten sowie die Bildung politischer Parteien oder Gruppierungen auf der Grundlage von Religion, Sekten, Stämmen, Regionen, Gesellschaftsklassen, Berufsgruppen oder auf Grundlage der Diskriminierung von Geschlechtern, Herkunft, Rasse oder Hautfarbe dürfen nicht unternommen werden.

2. Syrer über ihr Leben in Syrien vor dem Bürgerkrieg
Im ersten Abschnitt habe ich einige Aspekte der syrischen Verfassung hervorgehoben. Artikel in einer Verfassung geben aber noch keinen Einblick in das Alltagsleben der Bevölkerung. Eine gute Quelle sind die Erzählungen syrischer Flüchtlinge. Allerdings werden diese vom Interviewer meistens nur zur Flucht und dem Bürgerkrieg befragt, und nicht zu ihrem Leben in Syrien vor dem Bürgerkrieg. Dennoch ist es mir gelungen, eine Handvoll interessanter Schilderungen zusammenzutragen. Die meisten Leute berichten, dass sie vor dem Bürgerkrieg ein gutes Leben hatten, die verschiedenen Glaubensrichtungen lebten friedlich zusammen. Das gegenseitige Misstrauen dieser Glaubensrichtungen ist eine FOLGE des Bürgerkriegs und nicht ihre URSACHE. Als Fluchtgründe wird zum einen die Terrorisierung durch bewaffnete Gruppen angegeben, zum anderen die Bombardierungen durch die Armee. Freilich sagt auch der ein oder andere, nachdem er diese Gründe angeführt hat „aber das Wichtigste ist natürlich die Meinungsfreiheit“. Inwiefern besagten Personen die Meinungsfreiheit wichtiger ist als das eigene Leben, oder ob sie dem Interviewer, der genau das hören will, gefallen wollen, lässt sich nicht nachvollziehen.
Im Folgenden will ich einige Auszüge geben:
1) „DeutschlandRadioKultur“: „Neben der fröhlichen Razan wirkt Wael etwas ernst. Wael ist Sunnit, Razan Alewitin. Ihre Brüder sind befreundet, die Familien lebten im gleichen Haus, nie spielte ihre Religion eine Rolle, zumal Alewiten wie Sunniten Moslems sind. Doch aus den Protesten, die das Assad-Regime mit Gewalt zu stoppen versuchte, wurde ein bewaffneter Konflikt, schließlich ein Religionskrieg, spätestens seitdem der IS, der Islamische Staat, auch Teile Syriens erobert hat. Mit einem Mal begannen die Menschen in Latakia einander zu taxieren, immer auf der Suche nach dem Unterschied, schwappte der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, der die arabische Welt seit Menschengedenken spaltet, auch auf Latakia über, denn die liberalen Alewiten gehören zu den Schiiten.
„Latakia war eine schöne Stadt und ist es immer noch. Es gibt ruhige Plätze, aber auch ein munteres Nachtleben, viel Kultur. Es ist ein Touristenort. Im Sommer kommen viele Leute, denn Latakia liegt direkt am Mittelmeer. Es ist eine Küstenstadt. Sie bietet einfach alles. Deshalb ist sie sehr schön und ich liebe sie“, sagt Razan. „Wir Frauen aus Latakia gehen auch im Bikini schwimmen. Das ist kein Problem, allerdings nicht immer. Im Mai und Juni können wir im Bikini ins Meer, im Juli und August nicht mehr und dann ab September wieder. Wenn in der Hochsaison die Touristen aus dem Inland kommen, gehen wir nicht mehr so an den Strand, denn die sind viel konservativer. Wir wollen ja nicht in Verruf kommen. In Latakia gibt es auch Berge. Eine halbe Stunde Fahrt und schon ist man dort. Die Berge nennen sich die Alewiten-Bergkette. Latakia hat 400.000 Einwohner. Alle drei Konfessionen, also die Sunniten, Alewiten und Christen sind in Latakia ganz offen miteinander umgegangen. Vor dem Krieg gab es sowohl getrennte Viertel als auch gemischte. Man konnte ohne weiteres von einem Viertel in das andere umziehen. Mit dem Krieg wurden alle Viertel praktisch separiert. Es gibt seit Kriegsbeginn kein Vertrauen mehr, Alewiten, Sunniten und Christen leben strikt getrennt.“
Denn 2011 war es mit der Idylle vorbei. In Tunesien, Ägypten und Libyen wurden die Verhältnisse umgekrempelt, in Syrien setzte der arabische Frühling viele Monate später ein. Latakia war eine der ersten syrischen Städte, in denen die Menschen auf die Straße gingen. Wael und Razan nicht, sie waren von den Forderungen der Demonstranten nicht überzeugt: Freilassung von Gefangenen, nicht politischen sondern gewöhnlichen Kriminellen, Senkung der Lebensmittelpreise.
Den späteren Studentenprotesten wollte sich Razan dann aber sehr wohl anschließen. Denn sie richteten sich gegen die hohe Arbeitslosigkeit unter Jungakademikern. Razan stand kurz vor dem Abschluss ihres Englischstudiums und wusste, dass dieses Schicksal ihr ebenso drohte. Doch weder ihre arbeitslose Schwester noch sie selbst konnten zu den Demonstrationen gehen. Ihr Vater hatte den Umzug aufs Land angeordnet. Ihm war es in Latakia zu brenzlig geworden. Als Alewiten gehört die Familie der Elite Syriens an, die jetzt angefeindet wurde.
An der Kleidung seien Sunniten und Alewiten nicht zu unterscheiden, erklären Razan und Wael. Frauen in Latakia oder in der Hauptstadt Damaskus tragen gleichermaßen Jeans. Hauteng, so wie Razan. Sunnitinnen würden sich vielleicht kein Tattoo stechen lassen, anders als sie. Sie zieht den rechten Ärmel hoch, zum Vorschein kommen drei Schmetterlinge. Aber sunnitische Frauen würden durchaus auch einen Sticker aufkleben, der aussieht wie ein echtes Tattoo.“

Den Rest der Geschichte werde ich knapp zusammenfassen: Plötzlich erfasst Razans Vater, wie fast alle anderen Alawiten auch, starkes Misstrauen zu der sunnitischen Bevölkerung, selbst zum Verlobten seiner Tochter Wael, den er von Kindesbeinen an kennt. In Razans Familie war es üblich, dass die Mädchen erst studieren und dann erst heiraten, also hatten Razan und Wael mit der Hochzeit noch gewartet, obwohl sie bereits seit längerem ein Paar waren. Doch nun will Razans Familie, dass sie statt seiner einen alawitischen Cousin heiratet. Durch die ständigen Stromausfälle, die infolge des Krieges auftreten, kann Wael seiner Arbeit nicht mehr nachgehen (er besitzt einen Computerladen); zudem fürchtet er, die Armee könnte ihn einziehen. Er und Razan heiraten heimlich in Damaskus; dann flieht er und sie kommt nach.

2) „SOS-Kinderdorf“: Interview mit dem Syrer Malek N., der 2013 mit seiner Familie nach Deutschland kam.
Frage: Wie sah Ihr Leben aus, bevor Sie Syrien verlassen mussten?
Malek: Ich habe mit meiner Familie in Daraa gelebt, das liegt im Süden Syriens, in der Nähe von Damaskus. Dort war ich Geschäftsmann und hatte eine Firma für Elektronikgeräte mit 11 Mitarbeitern. Wir hatten ein gutes Leben, in einem eigenen Haus, mit einem guten sozialen Netzwerk.
Frage: Konnten Sie Ihre Flucht planen oder mussten Sie Ihre Heimatstadt Hals über Kopf verlassen?
Malek: In Daraa ist der Konflikt in Syrien zuerst ausgebrochen. Meine Familie und ich haben noch etwa ein Jahr dort ausgehalten und wollten abwarten. Wir hatten die Hoffnung, dass sich wieder alles beruhigt. Dann sind wir zu den Schwiegereltern in einer entfernten Stadt gezogen. Den Laden haben wir noch behalten, und ich habe versucht, in der neuen Stadt auch einen Laden aufzumachen. Aber der Krieg wurde immer schlimmer. Und wir als Christen kamen in eine immer bedrohlichere Lage. Ich wollte meine Familie, vor allem meine drei Söhne, schützen. Sie sind jetzt 5, 15 und 17 Jahre alt.

3) „Wdr5“: „Bis vor vier Jahren hatte der 44-jährige [Ammar Refai] ein eigenes Haus und eine Medizintechnikfirma in Homs, seine Frau eine Apotheke. Als der arabische Frühling in Syrien zum Krieg wurde, zerstörte er die heile Welt und das Stadtviertel der Refais. „Sie stellten die Panzer drum herum auf und im selben Augenblick schossen sie. Aber da waren soviele Menschen drin, sie zerstörten alles“. Ammar Refai ist Anästhesist, hat das Operieren nicht gelernt. Aber er war der einzige Arzt im Viertel und tat, was er tun musste. Operieren, alles was rein kommt. Auch seinen eigenen Sohn, der durch Brandbomben schwer verletzt worden war.“

Die nächsten beiden Fälle beschäftigen sich mit Homosexualität in Syrien. Die ist zwar rein theoretisch per Gesetz verboten (zu Beginn seiner Amtszeit versprach Assad auch in dieser Hinsicht Reformen, es wurde aber nichts umgesetzt), d.h. es droht eine Haftstrafe von 2-3 Jahren, in der Realität aber mehr oder weniger geduldet. Kommt es doch zu einer Verhaftung, dann ist es sehr hilfreich, wenn man vermögend ist und es sich leisten kann, die Polizisten zu bestechen. Aus irgendeinem Grund jedoch – vermutlich ist es der Verrohung, die allgemein in Kriegen beobachtet wird – wird seit Ausbruch des Bürgerkriegs strenger gegen Homosexuelle vorgegangen. Überflüssig zu erwähnen, dass das nicht von der Regierung ausgeht, sondern von individuellen Polizeibeamten, die die Gefangenen dann auch wirklich schikanieren.
Man vergesse allerdings nicht, dass Syrien eine islamisch geprägte Gesellschaft ist, wenn auch eine sehr moderate und tolerante. Wenn Veränderungen und Modernisierungen zu abrupt stattfinden, wird das zu einem Erstarken der islamistischen Kräfte führen, die gegen die Regierung hetzen. Man nehme als Beispiel Afghanistan, dessen Bevölkerung gleich zweimal im letzten Jahrhundert gegen Modernisierer (ein Schah und eine quasi-kommunistische Regierung) aufbegehrte, als diese völlig unerwartet die Schulpflicht für Mädchen und ähnliche progressive Neuerungen durchgeführt hatten. Ja, selbst die Saud-Dynastie muss vorsichtig sein: Die Besetzung der Großen Moschee von 1979 durch religiöse Eiferer ist nicht zuletzt ein Nebeneffekt einer zu raschen Modernisierung. Allgemein lässt sich feststellen, dass es nicht immer nur die Regierung ist, die Modernisierungen verhindert, sondern dass es auf der anderen Seite vom konservativen Teil der Bevölkerung oft nicht gut aufgenommen wird, wenn mit jahrhundertealten Traditionen zu rasch gebrochen wird, unabhängig davon, ob diese Traditionen Sinn machen oder schon längst zum bloßen Ritual verkommen sind.

4) „ZEIT„: „Dass ein Mann Bauchtänzer war, nahm das Regime in diesen Jahren ebenso hin wie die Tatsache, dass sich schwule Männer in Parks und Cafés zum schnellen Sex verabredeten. Doch irgendwann, sagt Rami, habe er die rote Linie überschritten: Er organisierte Hilfe und Unterkunft für junge Schwule, die von ihren Familien verstoßen worden waren. Das roch nach politischem Aktivismus. 2003 wurde er verhaftet und saß drei Monate lang in Untersuchungshaft, bis seine Familie ihn herauskaufte.
(…) Ende 2010 kehrte er [Rami] zurück nach Syrien, denn er hatte Heimweh. Er kam mit reichlich Geld und dem Plan, außerhalb von Damaskus ein informelles Zentrum für schwule Männer aufzubauen: eine Beratungsstelle, Notunterkunft und Party-Adresse in einem. Die Zeit sei reif gewesen für ein bisschen gay pride in Syrien, sagt er. Doch der Zeitpunkt war denkbar ungünstig: Wenige Monate später brach der Aufstand gegen das Assad-Regime los. Zunächst friedlich, dann, in Reaktion auf die Scharfschützen und Panzer des Regimes, mit Waffen.
Ein Bürgerkrieg oder eine Revolution heben alle Regeln des herrschenden Systems auf, das bekämpft werden soll. Auch die Freiräume, die es vorher zuließ. Frauen bekommen das oft als Erste zu spüren. Doch keine Gruppe ist so angreifbar wie Homosexuelle, genauer gesagt: wie schwule Männer. Vorher hatten sie eine Clubszene, gingen in Badehäuser und kommunizierten recht freizügig im Internet. Vor dem Regime fürchteten sich vor allem jene ohne Geld und Beziehungen.“

5) „Süddeutsche“: „Vor dem Aufstand wurde Homosexualität in Syrien meist geduldet, man traf sich in Cafés und auf privaten Partys. Allein in Damaskus umfasste die Szene 2000 Schwule und Lesben. „Aber jetzt sind alle panisch, weil nach dem Sturz des Regimes die Islamisten an die Macht kommen könnten.“
Bei Aleppo verschleppten Rebellen der „Freien Syrischen Armee“ einen Schwulen und zwangen ihn, Namen von anderen Männern zu verraten. „Sie wollen das islamische Recht anwenden, gewinnen sie, werden sie über uns herfallen.“ Aber auch das sozial so offene Assad-Regime griff Schwule an: nach politischen Krisen wie dem Kampf gegen die Muslimbrüder und dem Massaker in Hama Anfang der 80er oder bei Razzien vor zwei Jahren, als die Szene zu groß wurde und zu offen auftrat.“
Die „Deutsche Welle“ berichtet über denselben Mann: „In Syrien ist Homosexualität illegal. „Zwar hatte Präsident Baschar al-Assad am Anfang seiner Amtszeit, im Jahr 2000, versprochen, in diesem Bereich Reformen durchzusetzen, doch bis heute hat sich die Situation der Schwulen und Lesben nicht verbessert“, kritisiert Hassino. „2010 wurden mehrfach Schwule festgenommen, die in Privatwohnungen Partys gefeiert haben.“ Drei von ihnen sei Drogenmissbrauch vorgeworfen worden.
„Niemand kann voraussagen, was in Syrien weiterhin passieren wird“, sagt Hassino. „Wir müssen ein Bewusstsein für unsere Belange schaffen. Wir wollen ein säkulares Syrien.“ Auch Homosexuelle, die zurzeit noch auf der Seite Assads sind, müssten darüber nachdenken, was nach seinem Sturz passieren könnte: „Sie müssen einen Notfallplan haben.“ [Hassino ist auf der Seite der Rebellen. Allem Anschein nach glaubt er an die Möglichkeit des Sieges der „moderaten Opposition“, die freilich allen Leuten sofort alle Rechte gewähren wird.]

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